J. Steinauer u.a. (Hrsg.): Das Kapitel St. Nikolaus in Freiburg

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Titel
Le chapitre Saint-Nicolas de Fribourg: foyer religieux et culturel, lieu de pouvoir. Das Kapitel St. Nikolaus in Freiburg: Hort des Glaubens, der Kultur und der Macht. Actes du colloque / Akten des Kolloquiums


Herausgeber
Steinauer, Jean; Hubertus, von Gemmingen
Reihe
Archives de la Société d’histoire du canton de Fribourg, nouvelle série 7
Erschienen
Fribourg 2010: Société d’histoire du canton de Fribourg
Anzahl Seiten
529 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
René Pahud de Mortanges

2012 kann das Kapitel St. Niklaus in Freiburg sein 500jähriges Bestehen feiern. Es wurde 1512 als Kollegialstift gegründet, also als Gemeinschaft von Weltpriestern, die sich zum Zweck des regelmässigen gemeinsamen Chor- und Gottesdienstes zusammenfinden, die aber neben ihren Residenz- und Präsenzpflichten als Kapitelmitglieder noch andere Aufgaben wahrnehmen, etwa in der Seelsorge in Pfarreien. Solche Stadtstifte gab und gibt es auch in anderen Städten der Eidgenossenschaft: St. Leodegar in Luzern, St. Ursus in Solothurn und St. Vinzenz in Bern. Letzteres wurde 1484 gegründet und war ein wichtiges Vorbild für das Stift St. Nikolaus, ging aber im Zuge der Reformation rasch ein, wohingegen St. Nikolaus in der Zeit der Gegenreformation seinen eigentlichen Aufschwung erlebte und bis zum Ende des Ancien Régime florierte. Als materielle Grundlage des Stiftes dienten die in grosser Zahl inkorporierten Pfarreien im näheren und entfernteren Umland von Freiburg. Die Pfarreien waren zugleich Anlass zahlreicher Kompetenzkonflikte mit dem Bischof von Lausanne, der seit 1615/1663 in Freiburg residierte, dies nachdem er 1536 mit der Besetzung der Waadt durch Bern dort das Weite gesucht hatte. Das Gerangel um die Jurisdiktion fand erst mit der Ernennung der Stiftkirche St. Nikolaus zur Kathedrale und mit der Umwandlung des Stiftskapitels in ein Domkapitel ein Ende; das gelang freilich erst 1924 und im zehnten Anlauf. Anders als in verschiedenen anderen Diözesen der Schweiz verfügte das Freiburger Domkapitel nie über ein Mitwirkungsrecht bei der Bestimmung des Bischofs.

Der vorliegende Band vereinigt 30 teils deutsche, teils französische Beiträge zu den vielfältigen Aspekten der Geschichte des Kapitels. Er ist hervorgegangen aus einem Kolloquium, das anlässlich des Abschlusses der Inventarisierung des Kapitelarchivs durchgeführt wurde, welches seit 1963 im Staatsarchiv Freiburg deponiert ist. In den Beiträgen geht es um die Situierung des Stiftes in der schweizerischen Stiftslandschaft (Guy Marchal), um seine Vorgeschichte (Kathrin Utz Tremp), um sein Verhältnis zur weltlichen Obrigkeit des Stadtstaates Freiburg (Thomas Lau, Emanuel Leugger), sein Verhältnis zum Bischof (Patrick Braun) sowie zum Nuntius und zum Hl. Stuhl (Urban Fink). Darüber hinaus werden in verschiedenen weiteren Aufsätzen die Kapitelmitglieder und Pröpste vorgestellt (Laurence Perler-Antille, Francis Python, Marius Michaud, Rita Binz-Wohlhauser, Alexandre Dafflon). In der Zusammenschau verdeutlichen die Beiträge, was Urban Fink treffend sagt: «Die Geschichte des St. Niklausenstifts ist über Jahrhunderte durch ein Gemengelage von zum Teil widersprüchlichen, ja sich manchmal ausschliessenden Interessen gekennzeichnet, die direkt oder indirekt Involvierte an den Tag legen, sei dies nun die Freiburger Führungsschicht, das Stift selbst, der Freiburger Klerus, die durch den Einmarsch Berns in die Waadt im Exil lebenden Lausanner Bischöfe, der Stand Bern und weitere reformierte Bundesgenossen, das Fürstentum Savoyen sowie Frankreich, die Päpste und die römische Kurie oder die Päpstlichen Nuntien in der Schweiz (126f.). Weitere Aufsätze sind den inkorporierten Pfarreien (Jacques Rime, François Rime, François Blanc und Christel Fontaine-Marmy) gewidmet. Untersucht werden auch die Liturgie im Kapitel (Martin Klöckener, François Seydoux), der Kirchenschatz (Ivan Andrey), die dem Kapitel am Genfersee gehörenden Rebberge und schliesslich die Gräber in der Kirche (Hubertus von Gemmingen).

Der Aufschwung des Kapitels in der Gegenreformation wird gut illustriert mit dem Beitrag von Mariano Delgado zum Wirken von Petrus Canisius als Prediger in St. Nikolaus. Wie Delgado aufzeigt, kommt mit Canisius weltkirchliches Bewusstsein nach Freiburg, «aber auch ein Evangelisierungselan, der in seinem Eifer, in seinen Methoden und in seiner Ausdrucksweise neu war, weil er dem Reformgeist des Trienter Konzils entsprach » (82). Canisius scheute sich nicht, in seinen Predigten der Stadtregierung gelegentlich «durch die Blume die Leviten zu lesen und ein ideales Gegenbild zur bestehenden Sozialordnung vor Augen zu halten» (78). Dabei war das Kapitel nicht vom Stadtrat unabhängig, im Gegenteil. Wie die anderen Stadtstifte war schon die Gründung von St. Nikolaus – am Rande der damaligen Bistumsgrenzen – Ausdruck eines erstarkenden Selbstbewusstseins des Stadtrates als Territorialhoheit; es fand hier eine «Angleichung der kirchlichen Verhältnisse an die territorialstaatlichen Gegebenheiten» statt (Guy Marchal, 48). Gleich wie St. Vinzenz in Bern diente dieses Stadtstift nun territorial bestimmten, politischen oder konfessionellen Anliegen der Stadt (50). Wie Kathrin Utz Tremp zeigt, übte der Schultheiss der Stadt schon im vor 1512 bestehenden Klerikerverband von St. Nikolaus die Kontrolle über die jährlichen Ein- und Ausgaben des Klerus aus (64). Bereits 1459 erhielt der Klerikerverband auch das Bürgerrecht der Stadt. Emanuel Leugger illustriert, dass diese enge Verbindung von Kapitel und Rat bis zum Ende des Ancien Régime bestehen blieb. Grundlage davon war die soziale, vorwiegend verwandtschaftliche Einbindung der Kapitelmitglieder in die Freiburger Herrschaftsschicht (115). Noch im 18. Jahrhundert verstand und inszenierte sich die Freiburger Obrigkeit als unangefochtene Schutzherrin der Klerikergemeinschaft. Das zeigte sich nicht nur in der staatlichen Verwaltung ihrer materiellen Güter, sondern auch in der Besetzung der Chorherrenstellen durch den Kleinen Rat (114). Solche «cura religionis» diente auch der Legitimierung der eigenen – im 18. Jh. freilich zunehmend prekärer werdenden – oligarchischen Herrschaft. In Ansätzen überlebte die staatliche Mitbestimmung die Verfassungsstürme des 19. Jahrhunderts und dauerte bis zur Gegenwart fort. 1981 wurde letztmals der Propst vom Grossen Rat des Kantons Freiburg bestimmt. Sein Nachfolger, der heutige Domprobst, wurde 2004 hingegen vom Domkapitel gewählt und durch den Bischof bestätigt. St. Nikolaus ist damit – jedenfalls aus der Sicht des heutigen Kirchenrechts – zu einem «normalen» Domkapitel geworden (152).

Das vorliegende Buch ist erfreulicherweise nicht ein vielfarbiger Prachtband ohne Neuigkeitswert, sondern ein spannender Werkstattbericht, der illustriert, dass und wie man sich mit unterschiedlichen Fragestellungen der reichen Geschichte dieser altehrwürdigen Institution nähern kann. Es ist sehr zu hoffen, dass die Forschung weitergeführt wird.

Zitierweise:
René Pahud de Mortanges: Rezension zu: Jean Steinauer/Hubertus von Gemmingen (Hg.), Le chapitre Saint-Nicolas de Fribourg: foyer religieux et culturel, lieu de pouvoir. Das Kapitel St. Nikolaus in Freiburg: Hort des Glaubens, der Kultur und der Macht. Actes du colloque/3–5.2.2010/Akten des Kolloquiums, Freiburg, Société d’histoire du canton de Fribourg, 2010. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 106, 2012, S. 689-690.

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